4 Die Ware als Spektakel: Die Frage nach der Warenstruktur
Zu Beginn dieser Arbeit wurde der erste Satz der GdS als Ausgangspunkt der erfolgenden Untersuchung genannt. Er lautet: „Das ganze Leben der Gesellschaften, in welchen die modernen Produktionsbedingungen herrschen, erscheint als eine ungeheure Sammlung von Spektakeln“ (1, 1). Bisher wurde dargestellt, inwiefern der Begriff des Spektakels als Totalität auch einen historischen Moment bezeichnet, der durch die Beschlagnahme des Lebens durch die Ware ausgezeichnet ist. Zudem wurde unter Rückgriff auf Lukács aufgezeigt, wie sich eine solche Beschlagnahme des Lebens durch die Ware vorgestellt werden kann. Damit ist Debords Satz aber noch nicht verständlich gemacht. Formuliert man ihn anhand der bisher gewonnenen Einsichten um, lautet er: Das ganze Leben der Gesellschaften, in welchen die modernen Produktionsbedingungen herrschen, erscheint als eine ungeheure Ansammlung von Warenförmigkeit.Was das Spektakuläre daran ist, ist jedoch noch nicht ausgemacht. Es muss also die Frage gestellt werden: Warum erscheint das gesellschaftliche Leben, das sich als eines von der Ware in Beschlag genommenes zeigt, als eine Ansammlung von Spektakeln? Lukács‘ methodische Annahme der Ware als Universalkategorie gesellschaftlichen Seins wird von ihm in der Einleitung zu Geschichte und Klassenbewusstsein wie folgt ausformuliert: „[E]s gibt kein Problem dieser Entwicklungsstufe der Menschheit, das in letzter Analyse nicht (…) hinweisen würde, dessen Lösung nicht in der Lösung des Rätsels der Warenstruktur gesucht werden müsste“1. Die Frage nach dem Wesen der Warenstruktur erscheint „als zentrales, strukturelles Problem der kapitalistischen Gesellschaft in allen ihren Lebensäußerungen.“2 Dies angenommen, kann also auf die Frage, warum das Leben als Ansammlung von Spektakeln erscheint, geantwortet werden: Weil die Ware selbst in ihrer Struktur spektakulär ist. Eine Struktur beschreibt die Art und Weise, in der die Elemente eines Ganzen verbunden sind, und zwar derart, dass sie funktionieren, beziehungsweise bestimmte Funktionen zu erfüllen im Stande sind.3
Ziel des folgenden Abschnittes ist es die Warenstruktur insofern zu beschreiben, als dass daraus verständlich gemacht werden kann, warum die Ware als Spektakel erscheint bzw. als spektakuläre Ware auftritt. Als wesentliche Elemente der Warenstruktur sollen dafür der Gebrauchswert und der Tauschwert angenommen und zunächst bei Marx und anschließend bei Debord untersucht werden. Damit soll die letzte der in dieser Arbeit darzustellenden Bewegungen untersucht werden: Die Verschiebung innerhalb der Warenstruktur selbst.
4.1 Gebrauchswert und Tauschwert bei Marx
Für die folgende Betrachtung der Warenstruktur bei Marx soll sich auf die begriffslogische Bestimmung der Ware im ersten Kapitel des Kapitals konzentriert werden. Dabei gilt, dass es mit einer einfachen Definition von Gebrauchswert und Tauschwert nicht getan ist. Wie bei dem Begriff der Ware selbst ist stets der Kontext der Definition zu beachten. Es gilt, was Haug über den Gebrauchswert sagt, nämlich dass es sich bei ihm um einen „Relationsbegriff“ handelt, „der in dieser Allgemeinheit historisch unspezifisch“4 verbleibt und konkretisiert werden muss durch ein für wen bzw. in welcher Situation.
4.1.1 Der Gebrauchswert – die Nützlichkeit eines Dings
Als erste Bestimmung des Gebrauchswertes findet sich die folgende Aussage bei Marx: „Die Nützlichkeit eines Dings macht es zum Gebrauchswert”5, zu einem Gut. Worin besteht diese Nützlichkeit eines Dings? Sie ist zunächst einmal abhängig von den Eigenschaften des Dinges, dem Nützlichkeit zugesprochen wird, und existiert nicht ohne dessen konkrete Eigenschaften. Gleichzeitig ist ein Ding stets nur nützlich im Bezug auf einen bestimmten Nutzen oder Gebrauch. Seine Nützlichkeit ist also ebenso abhängig von seinen gesellschaftlichen Verwendungsweisen und damit wandelbar. Welches die gesellschaftlichen Verwendungsweisen sind, hängt wiederum von Faktoren wie beispielsweise den zur Verfügung stehenden Kenntnissen ab. In diesem Sinne weist Marx darauf hin, dass es „geschichtliche Tat“ sei, die mannigfaltigen Gebrauchsweisen der Dinge zu entdecken.6 Als Beispiel für diese doppelte Bedingtheit der Nützlichkeit eines Dings, einerseits durch seine natürlichen Eigenschaften, andererseits durch die gesellschaftliche Verwendungsweise, nennt Marx Magneten. Deren Eigenschaft, Eisen anzuziehen wurde erst mit der wissenschaftlichen Entdeckung der magnetischen Polarität, des Magnetismus nützlich.7
Auch wenn es die Nützlichkeit eines Dinges ist, durch die es Gebrauchswert wird, sind Nützlichkeit und Gebrauchswert nicht identisch. Stattdessen ist der „Warenkörper selbst (…) ein Gebrauchswert oder Gut” 8. Der Gebrauchswert ist also etwas sinnlich erfass- und erfahrbares, auch wenn er sich „nur im Gebrauch oder der Konsumtion”9 verwirklicht, d.h. sich in der Wirk-lichkeit seines Gebrauchs als wertvoll für die ihn gebrauchenden Personen zeigt. Für Marx stellt der Gebrauchswert zudem den stofflichen Inhalt des Reichtums dar, unabhängig von der jeweils gegebenen gesellschaftlichen Form.10 Es gilt also, dass nicht jeder Gebrauchswert zwangsläufig eine Ware ist: „Wer durch sein Produkt sein eigenes Bedürfnis befriedigt, schafft zwar Gebrauchswert, aber nicht Ware.”11 Dies gilt damit logischerweise ebenso im Bezug auf seine Ausgangsfrage: Die Untersuchung des Reichtums von Gesellschaften mit kapitalistischer Produktionsweise. Es lässt sich also sagen, dass Gebrauchswerte den stofflichen Inhalt des in Warenform vorhandenen Reichtums kapitalistischer Gesellschaften bilden.
Umgekehrt muss für Marx jede Ware Gebrauchswert besitzen. Er stellt die „stoffliche Verschiedenheit der Waren“ und damit „das stoffliche Motiv des Austausches“12. Die Käufer wollen, was der Verkäufer besitzt, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Voraussetzung für den Austausch wiederum ist, dass der Einzelne in einer arbeitsteiligen Gesellschaft nicht in der Lage ist, alle für ihn notwendigen Güter herzustellen. Insofern er also an die anderen Güter gelangen will, muss er diese auf dem Markt eintauschen, sie also als Waren erwerben. Der Gebrauchswert der Ware ist damit notwendig gesellschaftlicher Gebrauchswert, das heißt Gebrauchswert für andere als den Verkäufer.13
Zusammenfassend kann der Gebrauchswert verstanden werden als die Nützlichkeit eines Dings zu einem bestimmten Gebrauch. Sie ist sowohl abhängig von den stofflichen Eigenschaften dieser Sache, als auch von deren historisch wandelbaren, gesellschaftlichen Verwendungsweisen.
Für die Ware ist der Gebrauchswert insofern von Bedeutung, als das er den Grund für den Kauf einer Sache, das heißt für ihre Verkäuflichkeit als Ware, stellt.
4.1.2 Der Tauschwert der Ware
Die Ware besitzt einen Tauschwert. Er erscheint im Austausch verschiedener Waren untereinander und ist „>>Erscheinungsform<< eines von ihm unterscheidbaren Gehalts”14 und zwar dem des Werts.15 Die Größe dieses Wertes wird bestimmt durch die Menge der zur Herstellung des Gebrauchswerts, der sein Träger ist, gesellschaftlich notwendigen Arbeit, bzw. da diese wiederum in Form von Zeit gemessen wird, durch die Menge der gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit.16
Wie kommt diese Bestimmung des Tauschwertes zustande? Marx bestimmt den Tauschwert ausgehend vom einfachen Tauschakt. Als Ausgangspunkt dient dabei die folgende Aussage: „Der Tauschwert erscheint zunächst als das quantitative Verhältnis (…), worin sich Gebrauchswerte einer Art gegen Gebrauchswerte anderer Art austauschen.”17 Der Tauschwert gibt also an, wieviele Einheiten X des einen Gutes für wieviel Einheiten Y eines anderen Gutes getauscht werden können. Marx bemerkt, dass dieses Verhältnis kein feststehendes ist; es varriert zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten, weshalb der Tauschwert zufällig und relativ zu sein scheint18. Allerdings ist es möglich, ein Gut X nicht nur gegen Einheiten eines Gutes Y, sondern auch gegen jene jedes beliebigen anderen Gutes zu tauschen. Daraus folgert Marx, dass erstens alle „gültigen Tauschwerte der selben Ware” ein Gleiches ausdrücken und zweitens der Tauschwert daher „nur die Ausdrucksweise (…) eines von ihm unterscheidbaren Gehalts”19 sein kann. Während die erste Schlussfolgerung nach den traditionellen Regeln der Logik evident erscheint (Wenn A=B und A=C, dann gilt auch B=C), ist die zweite weniger nahe liegend. Sie ergibt sich aus der Frage: Wenn alle gültigen Tauschwerte derselben Ware, d.h. all die vielfältigen Gebrauchswerte, für die sich eine Ware eintauschen lässt, ein gleiches ausdrücken, was ist dann dieses Gleiche?
Die körperlichen oder natürlichen Eigenschaften der Waren können es nicht sein20. Jene sind es schließlich, die sie zu Gebrauchswerten machen. Was das Tauschverhältnis ausmacht ist aber gerade, dass es von den spezifischen Qualitäten der Güter absieht, sie einander gleich macht um sie austauschen zu können.21 Unter dem Gesichtspunkt des Wertes interessiert es nur, wieviel einer anderen Ware ich für meine eigene bekomme, nicht aber welche andere Ware dies ist.22 „Als Tauschwerte können [die Waren] nur verschiedener Quantität sein, enthalten also kein Atom Gebrauchswert.”23 Die einzige dann noch übrig bleibende Eigenschaft der Ware ist es Produkt menschlicher Arbeit zu sein. Da jedoch von den konkreten Eigenschaften der Waren und damit auch von den konkreten Formen der Arbeit abgesehen wird, gelten sie als Produkt abstrakt menschlicher Arbeit, als Produkt der „Verausgabung menschlicher Arbeitskraft ohne Rücksicht auf die Form ihrer Verausgabung”24. Jene ist es also, die den Wert der Ware, der sich im Tauschwertes ausdrückt, ausmacht. Die Wertgröße kann nun, da die den Wert ausmachende abstrakte Arbeit eben als solche nicht weiter qualitativ bestimmbar ist, lediglich quantitativ bemessen werden, womit die Arbeitszeit zum Maßstab der Wertgröße wird. Jedoch ist es nicht die Arbeitszeit, die ein einzelner Arbeiter je individuell benötigt, sondern jene, die es braucht „um irgendeinen Gebrauchswert mit den vorhandenen gesellschaftlich-normalen Produktionsbedingungen und dem gesellschaftlichen Durchschnittsgrad von Geschick und Intensität der Arbeit darzustellen”25, sprich, gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit.
4.1.3 Das Verhältnis von Gebrauchswert und Tauschwert
Inwiefern setzt sich die Ware aus der Kombination von Gebrauchswert und Tauschwert zusammen? „Der Gebrauchswert der Ware ist der Inhalt des Werts bzw. des Tauschwerts als der bestimmten Form des gesellschaftlichen Verhältnisses.“26 Als stoffliche Grundlage der Ware bildet der Gebrauchswert den Grund ihrer Austauschbarkeit insofern als als gesellschafticher Gebrauchswert nach ihm eine Nachfrage besteht. Der Tauschwert, Ausdruck des Werts einer Ware als quantitatives Verhältnis zu einer anderen Ware, ist das Mittel zum Vollzug des Austausches, unabhängig davon, ob es sich um einen direkten Austausch oder um einen über die Geldform vermittelten handelt. In ihrem Zusammenspiel ermöglichen Tauschwert und Gebrauchswert den Individuen einer arbeitsteiligen Gesellschaft an von ihnen nicht produzierte Güter zu gelangen. Insofern dient die Ware anscheinend der Befriedigung der Bedürfnisse der warentauschenden Individuen im Gebrauch eben dieser durch den Tausch erlangten Waren.